Interview mit Herrn Dr. med. Andreas Reichel
Herr Dr. Reichel, warum hat das Thema Übergewicht in unserer Gesellschaft so stark an Bedeutung gewonnen?
Übergewicht und Adipositas sind Themen, über die viele Menschen sprechen, ähnlich wie beim Fußball. Jeder hat eine Meinung dazu, oft basierend auf eigenen Erfahrungen. Betroffene erhalten zahlreiche Ratschläge und Tipps von sogenannten „Experten“, deren Qualifikationen nicht immer eindeutig sind. Doch was ist tatsächlich richtig?
Welche Ursachen führen zu Adipositas? Die Ursachen der Adipositas sind sehr vielfältig und in den meisten Fällen auf den Lebensstil zurückzuführen. In unserer schnelllebigen Welt essen viele Menschen unregelmäßig und haben wenig Zeit, sich gesund zu ernähren. Essen ist überall verfügbar und die Portionen sind größer geworden. Viele Fertigprodukte enthalten viel Zucker und Fett. Ein weiterer wichtiger Faktor ist Bewegungsmangel. Durch sitzende Tätigkeiten im Alltag, welcher bereits in der Schulzeit beginnt, verbrennen wir weniger Kalorien. Der Mangel an körperlicher Aktivität trägt ebenfalls zur Gewichtszunahme bei. Auch Stress kann eine Rolle spielen. Manchmal nehmen Menschen Probleme von der Arbeit mit nach Hause und nutzen Essen als Stressventil. Das kann dazu führen, dass man mehr isst als nötig. Zusätzlich sind die Verlockungen durch Werbung und die ständige Verfügbarkeit von ungesunden Snacks große Herausforderungen. All diese Faktoren tragen zur Entstehung von Adipositas bei. Es gibt aber genauso genetische oder hormonelle Ursachen, die ausgeschlossen werden sollten.
Hat Übergewicht bzw. Adipositas eine gesundheitliche Relevanz?
Ja, Adipositas, also ein BMI von 30–40 kg/m², ist eine ernstzunehmende Krankheit. Ein Mensch mit Adipositas kann sich zwar wohl fühlen, trotzdem bestehen bereits häufig Folgeerkrankungen, die teilweise erst sehr spät diagnostiziert werden. Menschen mit Übergewicht sind einem höheren Risiko ausgesetzt, eine Vielzahl an Erkrankungen zu entwickeln. Ein häufiges Problem ist zum Beispiel ein Bluthochdruck, in dessen Folge das Risiko für einen Schlafanfall oder Herzinfarkt steigt. Häufig sehen wir auch Patienten mit einem Diabetes Typ 2 und Fettstoffwechselerkrankungen. Der Großteil der Patienten entwickelt bei steigendem Übergewicht eine Schlafapnoe, eine Erkrankung, bei der die Atmung im Schlaf immer wieder stoppt. Das zusätzliche Gewicht, besonders im Bauch- und Halsbereich, kann die Atemwege verengen oder blockieren. Wenn die Atemwege verengt sind, bekommt der Körper im Schlaf nicht genügend Sauerstoff. Dies führt dazu, dass die Patienten immer wieder aufwachen, um richtig zu atmen. Oft merkt man diese Aufwachphasen gar nicht bewusst, aber sie stören den Schlaf, sodass man sich tagsüber müde und erschöpft fühlt. Viele Erkrankungen lassen sich heilen, wenn das Gewicht dauerhaft in einen gesunden Bereich sinkt.
Wie unterstützen Sie Ihre Patienten beim Abnehmen?
Wir haben ein professionelles Team bestehend aus Ernährungsberatern, Psychologen, Physiotherapeuten, Ernährungsmedizinern und Ärzten, die gemeinsam mit den Patienten ein patientenzentriertes und individuelles alltagstaugliches Konzept entwickeln, ihre Essgewohnheiten dauerhaft umzustellen und mehr Bewegung in den Alltag einfließen zu lassen. Es erfolgt eine Verhaltenstherapie, um mit vergangenen und zukünftigen Problemen besser umgehen zu lernen. Unterstützend kann eine Medikamentöse Therapie begonnen werden, um insbesondere Hungerattacken unter Kontrolle zu bekommen. Zudem besteht in einigen Konstellationen die Möglichkeit einer bariatrischen Operation, wo z.B. die Größe vom Magen verkleinert wird.
Unser Programm erfolgt einmal monatlich über einen Zeitraum von einem Jahr. Während dieser Termine erarbeiten sich die Patienten unter anderem Aufgaben und Ziele, die sie dann zuhause versuchen umzusetzen.
Was tun Sie für Patienten, die sich aufgrund ihres Gewichts kaum noch bewegen können?
Es besteht sowohl die Möglichkeit einer medikamentösen Therapie als auch der bariatrischen Operation. Durch die deutliche Gewichtsreduktion ist eine rasche Verbesserung der Mobilität zu beobachten. Auch hier ist es notwendig, die bestehenden Lebensgewohnheiten zu ändern, wo unser Team die Patienten über viele Monate mit begleitet und unterstützt.
Das Helios Adipositaszentrum Sachsen ist ein zertifiziertes Referenzzentrum für Adipositas und metabolische Chirurgie. Wie profitieren die Patienten von dieser Zertifizierung?
Um als Kompetenzzentrum für Adipositas- und metabolische Chirurgie zertifiziert zu werden, muss eine Klinik nachweisen, dass sie optimal ausgestattet ist. Dazu gehört nicht nur ausreichend und gut ausgebildetes Personal, sondern auch die passende Ausstattung, wie OP-Tische, Betten und Zimmer, die für schwergewichtige Patienten geeignet sind. Ein weiteres Kriterium ist die vorgeschriebene Mindestanzahl an Operationen.