Die Rolle von „Gender Medicine“ wird zunehmend in der medizinischen Forschung thematisiert. Hierbei geht es um die Berücksichtigung biologischer, genetischer und geschlechtsspezifischer Unterschiede in der Medizin. Spätestens seit der COVID-19-Pandemie hat die Dringlichkeit dieser Disziplin zugenommen, da Männer bei einer Infektion signifikant höhere Sterberaten aufwiesen als gleichaltrige Frauen. Gender Medicine untersucht, wie geschlechtsspezifische Einflüsse wie Erziehung, Kultur, Rollenbilder und Lebensstil die Gesundheit und Krankheitsanfälligkeit beeinflussen. Dieses Wissen stärkt das Bewusstsein für eine geschlechtergerechte Herangehensweise in Prävention, Diagnose und Therapie.
Ein bemerkenswertes Beispiel ist die Adipositas-Chirurgie: Obwohl statistisch mehr Männer von Übergewicht betroffen sind, machen Frauen den Großteil der bariatrischen Eingriffe aus. Die Frage lautet daher: Warum werden mehr Frauen als Männer bariatrisch operiert?
Medizingeschichte und Übergewicht als „Frauenthema“
Historisch betrachtet wurde die Forschung in der Medizin vorwiegend an männlichen Körpern betrieben. Entsprechend wurde lange die männliche Anatomie als Standard für die Medizin festgelegt, und viele Studien fokussierten sich nur auf Männer. Auch wenn Männer heutzutage häufiger unter Übergewicht leiden, wird Adipositas gesellschaftlich eher als ein Problem von Frauen betrachtet. So haben in der Schweiz etwa 50 % der Männer einen BMI über 25 kg/m², bei den Frauen sind es rund 30 %. Dieses Ungleichgewicht setzt sich jedoch nicht bei den bariatrischen Operationen fort: Hier dominieren Frauen mit etwa 80 % der Eingriffe. Woher kommt diese Diskrepanz?
Gesellschaftliche Normen und Körperwahrnehmung
Ein Einflussfaktor ist das Schönheitsideal, das seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weltweit propagiert wird. In westlichen Kulturen gilt ein schlanker Körper als wünschenswertes Ideal, und Frauen sind vermehrt dem Druck ausgesetzt, diesem Bild zu entsprechen. Das verstärkte gesellschaftliche Augenmerk auf das weibliche Körpergewicht führt dazu, dass Frauen oft aktiver nach Möglichkeiten zur Gewichtsreduktion, wie etwa einer bariatrischen Operation, suchen.
Zusätzlich zeigt die Forschung, dass Männer und Frauen ihre Körper unterschiedlich wahrnehmen. Bei gleichem BMI empfinden sich Männer oft weniger eingeschränkt und weniger belastet durch ihr Übergewicht als Frauen. Das bedeutet, dass Männer tendenziell weniger von sich aus aktiv werden, um ihr Gewicht zu reduzieren. Frauen hingegen verspüren häufiger den Wunsch zur Gewichtsreduktion, was sie zu einer bariatrischen Operation veranlassen kann.
Empfehlungen durch Hausärzte
Eine nationale Umfrage zeigte, dass das Geschlecht in der Bewertung durch bariatrische Chirurgen kaum Einfluss auf die Entscheidung für eine Operation hat. Dennoch erhalten Frauen doppelt so häufig wie Männer den Rat, eine bariatrische Operation in Betracht zu ziehen. Bei ähnlichem Übergewicht und Alter wird Frauen die bariatrische Therapie häufiger nahegelegt. Der Grund könnte darin liegen, dass Frauen oft stärker unter ihrem Gewicht leiden, was Hausärzte motiviert, sie früher zu behandeln.
Gesundheitliche Motivation und Operationszeitpunkt
Ein weiterer Aspekt ist der Zeitpunkt, an dem Männer und Frauen eine Operation in Erwägung ziehen. Männer entscheiden sich oft erst dann für eine bariatrische Operation, wenn bereits gesundheitliche Komplikationen wie Herzinfarkt oder Diabetes mellitus auftreten. Solche kritischen Ereignisse bewirken, dass Männer die Notwendigkeit einer Therapie für ihr Übergewicht stärker wahrnehmen und akzeptieren, Unterstützung anzunehmen. Diese Entscheidung wird häufig nicht aus eigenem Antrieb getroffen, sondern auf Anraten von Familienmitgliedern oder behandelnden Ärzten.
Vorurteile gegenüber der bariatrischen Chirurgie
Eine Umfrage vor knapp 10 Jahren ergab, dass Männer bariatrische Eingriffe häufig als kosmetisch motiviert einstufen und daher lange zögern, sich operieren zu lassen. Diese Ansicht beeinflusst ihr Bild der bariatrischen Chirurgie als eine Maßnahme, die primär das Aussehen verändert, anstatt die Gesundheit zu fördern. Dieser Fehlglaube stellt eine Barriere dar und führt dazu, dass Männer erst bei ernsteren gesundheitlichen Problemen einen Eingriff erwägen.
Erfolg und Gleichwertigkeit der bariatrischen Chirurgie
Eine Studie, die den Verlauf von Männern und Frauen nach bariatrischen Operationen verglich, zeigt, dass die Behandlung für beide Geschlechter gleich wirksam ist. Innerhalb von 24 Monaten ist der Gewichtsverlust sowie die Verbesserung von Begleiterkrankungen bei Männern und Frauen vergleichbar. Zusätzlich verbessern sich die Lebensqualität, Fertilität und Sexualfunktion bei beiden Geschlechtern signifikant, was die Wirksamkeit der bariatrischen Chirurgie als Therapie für Übergewicht und seine Folgen unterstreicht.
Fazit: Geschlechtsspezifische Motivationen in der bariatrischen Chirurgie
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die geschlechterspezifische Entscheidung für oder gegen eine bariatrische Operation überwiegend auf sozio-kulturelle Faktoren zurückzuführen ist. Während Frauen stärker auf das Schönheitsideal und gesundheitliche Verbesserungen wie die Fruchtbarkeit sensibilisiert sind und von Hausärzten häufiger auf diese Therapie hingewiesen werden, lassen sich Männer oft erst bei gesundheitlichen Komplikationen operieren. Die bariatrische Chirurgie ist jedoch eine effektive Therapie zur Behandlung von Adipositas und deren Folgeerkrankungen – sowohl für Männer als auch für Frauen.
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Bilder: Canva.com